Zumindest drängt sich dieser Eindruck auf, wenn man durch den Hunsrück fährt: In fast jedem Dorf stößt man auf eine Schinderhannes-Schenke, ein Schinderhannes-Hotel. Man kann Schinderhannes-Spießbraten auf Schinderhannes-Brot speisen, Schinderhannes-Bier trinken, mit Schinderhannes-Schnaps nachspülen, Schinderhannes-Tabak rauchen. Man kann sich auf Schinderhannes-Loipen und -Rundwegen tummeln, den Schinderhannes- Radweg befahren oder an einer Schinderhannes-Rallye teilnehmen.
Stilisiert zum Widerständler gegen das Franzosen-Regime
Wie alle anderen Räuber machte auch er einen großen Bogen um Dörfer, in denen französische Soldaten vermutet wurden – schon weil diese kurzen Prozess machten mit francs-tireurs (Freischärlern) und auch mit Dörfern, in denen man solche wähnte. Räuber wollten Beute machen, nicht kämpfen. Trotzdem taucht das idealisierte Bild des Rebellen auch in der Schinderhannes-Biographie von Curt Elwenspoek auf und regte wohl auch das Theaterstück von Carl Zuckmayer an. Populäre Vorstellungen vom Schinderhannes sind geprägt von romantisch verklärenden Romanen, Bühnenstücken und Filmen.
Curd Jürgens spielt den Räuber zum Volkshelden empor
Der Schinderhannes-Film von 1928 nach dem Drehbuch von Zuckmayer wurde im damals besetzten Rheinland verboten, sorgte für diplomatische Verstimmungen zwischen Paris und Berlin und durfte erst nach Änderungen gezeigt werden. Nach dem 2. Weltkrieg wurde auch am „rheinischen Helden“ vieles abgeschwächt, und so verwundert nicht, dass der Räuber auf manchen Zeichnungen aussieht wie Curd Jürgens in dem Schinderhannes- Film von 1958, in dem Bückler zur Mischung aus Till Eulenspiegel und Andreas Hofer mutierte. Erst mit diesem Film überflügelte der rheinische Bandit an Popularität den norddeutschen Piraten Klas Störtebeker (zu dessen Andenken heute auf Rügen Störtebeker- Festspiele inszeniert werden), und den Wildschützen Mathias Klostermayer, den „bayerischen Hiasl“, dessen Bande 1771 erst von zwei Kompanien Soldaten in mehrstündigem Gefecht überwältigt wurde, und den „Sonnenwirtle“ Friedrich Schwahn, dem Friedrich Schiller mit der Novelle „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ ein literarisches Denkmal setzte. Der deftig fröhliche Schinderhannes des Curd Jürgens machte den Kriminellen zum „Freizeiträuber“, mit dessen Namen sich Pfadfindergruppen schmücken.Bückler wurde 1778 in Miehlen im Hintertaunus als Sohn eines „Wasenmeisters“ geboren. Diesem Handwerk des Schinders oder Abdeckers (der Tiere „aus der Decke“ schlug, also abhäutete und den unverwertbaren Tierkadaver entsorgte) haftete im doppelten Sinne ein übler Ruch an: Sie mussten außerhalb der Dörfer leben, galten als „ehrlos“, ihre Nachkommen durften kein „ehrbares Handwerk“ betreiben. Johannes, dem Sohn des Schinders, blieb wenig übrig, als auch den Beruf des Vaters zu ergreifen. Den Lohn versuchte er mit Viehdiebstählen aufzubessern, er wurde ertappt, verhaftet und entkam – schon mit 16 Jahren ein steckbrieflich gesuchter Krimineller. 1802 versuchte er vergebens, als „fahrender Händler Ofenloch“ und dann als kaiserlicher Soldat wieder in die bürgerliche Gesellschaft zurückzukehren. Er wurde verraten, in Frankfurt verhaftet und an die Franzosen ausgeliefert.
Es scheint falsch, den Schinderhannes- Mythos mit der Faszination des Bösen erklären zu wollen. Die meisten Verbrecher, die Schlagzeilen machen, sind bald wieder vergessen, nur an wenige erinnert man sich noch nach Jahrzehnten. Deshalb ist das anhaltende Interesse an Bückler auch nach 200 Jahren erstaunlich. Es war schon in den Flugblättern und Zeitungsberichten spürbar, die vor Beginn des Strafprozesses in Mainz 1803 veröffentlicht wurden – wobei sich diese Schriften meist wenig um die tatsächlichen Geschehnisse im abgelegenen Hunsrück kümmerten. Der aufwändige Strafprozess, für den jeden Tag Eintrittskarten verkauft wurden, die 68 Angeklagten, die fast unüberschaubare Anzahl von Zeugen, die Hinrichtung steigerten die Faszination an dem Hunsrück- Räuber.
Zweifellos verdankt Bückler einen Teil seiner Berühmtheit der ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstdarstellung. Auch der von ihm bevorzugte Name „Johannes durch den Wald“, wie er Erpresserbriefe unterschrieb, strahlt geheimnisvolles Flair aus. Er sei charmant und humorvoll gewesen, wird berichtet, habe sich Gesprächspartnern anzupassen vermocht – was nicht nur junge Frauen anziehend fanden. Während der Verhandlung in Mainz wusste er viele Zuschauer für sich einzunehmen. Er war meist recht sorgfältig und „adrett“ nach der neuesten Mode gekleidet und hob sich schon dadurch deutlich von vielen seiner Komplizen ab. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn ließ er sich mehrmals von Schneidern komplett neu ausstatten – während sich damals die meisten Menschen bestenfalls einmal im Jahr ein neues Kleidungsstück leisteten.
Bückler versuchte, sich als Freund der Armen darzustellen
Mit Vergnügen erzählte Bückler auch, er habe bei einem Raubüberfall einem eingeschüchterten Reisenden sein Gewehr gegeben, damit er es halte, während er die übrigen durchsuchte. Allerdings schränkte er die Kühnheit dieser Aktion wieder ein, indem er erzählte, das Gewehr habe eine geheime Sicherungseinrichtung besessen (wobei Sicherungen an Feuerwaffen dieser Zeit extrem selten sind). Jedenfalls belegt auch diese Episode Bücklers Bestreben, für clever gehalten zu werden. Mit Vergnügen berichtete er vor dem Untersuchungsrichter auch über einen Raubüberfall, der seiner Meinung nach „mehr komisch als ernsthaft“ war. Dabei hatte er eine Gruppe jüdischer Händler gezwungen, die Schuhe auszuziehen, um diese nach versteckten Wertgegenständen zu untersuchen. Dann warf er sie alle auf einen Haufen, um sich daran zu ergötzen, wie sich die Opfer um die besten Schuhe balgten. Schon kurz nach Bücklers Hinrichtung entstand im Hunsrück die Mär vom Schelm, der letztendlich ein „guter Kerl“ war, der „Humor besaß, [und] ... echte Fröhlichkeit des Herzens“.
An der Fabel vom Räuber, der Reiche und Geizige bestiehlt und Arme beschenkt, erfreuten sich Menschen zu allen Zeiten. Der Held wurde so ausgemalt, wie ihn das Volk sich so wünschte: forsch und unverfroren gegenüber der Obrigkeit, freundlich und hilfsbereit gegenüber einfachen Leuten (wenn auch vorzugsweise bei jungen Mädchen). Geschichten vom „edlen Räuber“, der Arme beschenkte, tauchten zwar schon unmittelbar nach der Verhaftung des Schinderhannes auf – ohne dass bisher jemand deren Wahrheitsgehalt belegt hätte. Sicherlich hatten die Räuber wenig zu verschenken: Geld zerrann so schnell unter den Fingern, wie es geraubt worden war. Die Beute ging meist in viele Teile: Hehler und Helfershelfer wollten ihren Anteil, auch korrupte Beamte, Wirte und Fährleute für ihr Schweigen. Der Branntwein war teuer, und die Mädchen wollten versorgt werden.
Angesichts der zahlreichen Verbrechen Bücklers muss man feststellen, dass er wenig von einem „Robin Hood des Hunsrück“ hat. In Wahrheit ging es den Straßenräubern nur darum, an Geld oder Wertsachen zu gelangen. Sie zögerten meist keinen Augenblick, zu diesem Zweck Gewalt einzusetzen. Sie prügelten mit Knüppeln oder Waffen auf Überfallene ein, folterten mitunter, indem sie Gefangenen Kerzen unter die Fußsohlen hielten, damit diese Geldverstecke verrieten. Manche erlitten dabei schwere Verletzungen, erholten sich nie mehr. Ob Bückler weniger gewalttätig war als seine Komplizen, wie wohlwollende Biographen behaupten, kann weder schlüssig bestätigt noch verneint werden. Nach eigenen Aussagen – so bereits am ersten Tag seiner Vernehmung am 19. Juni 1802 – und den Berichten anderer war er zumindest in viele Schlägereien mit Kameraden verwickelt, bei denen oft Blut floss, auch zahlreiche Freundschaften zerbrachen.