Heinrich Reinhard beschreibt darin die Entstehung des Gemeindearchivs. Besonders interessant sind seine Ausführungen zu dem ehemaligen Semder Schulleben, das er aus den vorhanden Archivunterlagen rekonstruiert hat, sowie seine Ausführungen zur "verhinderten Semder Eisenbahn" und der dabei enthaltenen Aufstellung damaliger jährlicher landwirtschaftlicher Produktion.
Zum Schluss des Textes versichert Heinrich Reinhard, dass Semd amtlich bereits im Jahre 945 erwähnt wird. Dieses Datum ist für mich neu. Leider gibt aber auch er, wie vor ihm Adam Storck 4. mit dem Jahr 836 als Ersterwähnung, nicht an, worauf er sich dabei beruft. Viel Spaß beim Lesen.
Karlheinz Müller (01/2007)
Ein Streifzug durch das geordnete Semder Gemeindearchiv
Von Heinrich Reinhard in 02/1969 Semd hat nach dem Kriege 1939/45 es als eine der ersten Gemeinden verstanden, das Gemeindearchiv in Ordnung zu bringen, um der Nachwelt einen Überblick zu hinterlassen, was früher war und heute ist. Trotz schwacher Finanzlage entschloss sich damals Bürgermeister Müller, Wenzel, Student Poth, Heinrich Reinhard und Bürgermeister Georg, alle von Semd, einen Raum zu schaffen um die Unterlagen in eingebauten Schränken geordnet unterzubringen. Ein Herr Fruttig von Dieburg, der leider während der Sichtung des Materials verstorben ist, hat die Arbeiten begonnen und ein Herr Dr. Jakobi und Hillgärtner vom Landesarchiv in Darmstadt übernahmen die weitere Arbeiten und schafften ein in Regalen verschlossenes Archiv. Dieses Archiv wird bis zum heutigen Tage von Heinrich Reinhard in Obhut mit Herrn Bürgermeister Georg wie ihr Eigentum verwaltet, damit es als Wertschatz der Gemeinde erhalten bleibt. Jetzt liegt es an den jetzigen Vertretern, dass in Zukunft das Material von 1945 bis zur Gegenwart neu hinzugefügt wird. Wer nun die Geschichte von Semd beschreiben will, der findet alle Unterlagen in dem Archiv, das früher von unseren Vorfahren aus Unkenntnis des Wertes nicht geachtet wurde und dadurch wertvolle Sachen vernichtet wurden.Nun will ich allen die diese Schrift lesen wahrheitsgemäss schreiben was über die Ortsgeschichte zu sagen ist.
Ein Gerichts- und Protokollbuch aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gibt uns Auskunft über die Bestellungen der Schultheißen, der Gerichtsmitglieder, der beiden Bürgermeister, des Gemeindemannes, der Feuerläufer, der Feldschützen oder etwa derjenigen, die sich zu ständiger Verfügung des Korporals halten mussten. Für familiengeschichtliche Forschungen können wir Semder Namen ablesen: Seibert, Vogel, Schneider, Eydmann, Dintelmann, Sorg, Storck, Ohl, Vögler, Löffler, Georg, Maus, Heil, Lämmermann, Höret, Rein, Mohrhard, Staub, Sturmfels, Volz, Zacheiß, Rapp, Poth, Linß, Lengfelder, Müller, Menges und manche andere, nicht nur in diesem einzelnen Gerichtsbuch. Dieses bietet uns in seinem Querschnitt Einblick in die Dinge, die damals im Gemeindeleben von überragender Natur waren: Bestellungen der Schweinehirten, Pferchversteigerungen, Verzeichnisse eingezogener, d.h. also rotsbürgerlioh zugelassener Männer und Frauen, Anteile an der Forstwaldgemarkung, Verleihung des Gemeindeochsenstalles und dessen Aufwartung, Nachtwächterbestellungen.
Besondere Einzelunterlagen sind die Musterungslisten des vorigen Jahrhunderts überhaupt, Kriegskostenrechnungen aus der Zeit der Befreiungskriege. Dann Urkunden über Allodifikationen, Zehnt- und Grundrentenangelegenheiten. Vormundschaftsrechnungen sind aus dem 17. Jahrhundert in großer Zahl vorhanden, aus den üblichen Teilungsinventarien lässt sich gut so mancher Haushalt rekonstruieren. Aus dem 18. Jahrhundert liegt ein einzelner Vorgang über einen Rangstreit im Kirchenstuhl vor, einzelne Kirchengefällberechnungen reichen in den 30-jährigen Krieg zurück, übrigens auch Fragmente von Bürgermeisterrechungen. Sehr viele Unterlagen zum Bauwesen sind für den Volkskundler aufschlussreich und bieten Einblick in das Semder Fachwerkhaus. Ich will mich aber nicht mit Einzelaufzählungen begnügen, sondern noch kurz über zwei wissenswerte Teilgebiete der Semder Ortsgeschichte einige Andeutungen geben. Es handelt sich um die Semder Schule und um die "verhinderte" Semder Eisenbahn.
Vor einem eigenständigen Semder Schulleben wurden die Kinder von Groß-Umstadt aus betreut. Die Zusammensetzung des Gemeindeschulvorstandes musste fortan sich nach Evangelischen und Reformierten richten. Recht amüsant sind heutzutage die Vorgänge über 1831/32 ausgebrochene Streitigkeiten zwischen der Gemeinde und dem Lehrer Kühn über das Vieruhrläuten zu lesen. Später verlangten die Lehrer energisch eine Erhöhung ihrer Vergütung für das Heizen der Schullokale. Schulversäumnisse waren damals mit Schulstrafen verbunden, allerdings deren Eintreibung in vielen Fällen mehr als illusorisch. Sehr plastisch kann ein Semder Schulsaal kurz nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts gezeigt werden: das Inventar bestand aus Kirchengerätschaften und Schulgerätschaften, wozu gerechnet werden konnten zwei hölzerne Tafeln mit Stativ, eine Rechentafel mit Holzkugeln, ein Bücherschränkchen, neun Tintenfäßchen, ein Tintenkrug, eine Tintenflasche, ein Schwamm, neun Bänke, fünf Tafeltische, ein Lehrerstuhl, ein Tischchen mit einer Schublade, ein Ofen mit Rohr. Eine Aufgliederung in heutige Fächer gab es im Unterricht nach kaum: Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und Sittenlehre waren vertreten, es gab dazu ganz wenige Bücher, auch etwas Erdkunde wurde betrieben und waren in Semd sogar einige Karten vorhanden. Im Unterricht wurde eine Anzahl sogenannter Schreibvorlagen benutzt, mit Angaben über die Erdoberfläche, die freien Reichsstädte, Erdteile, Schenkungsurkunden, Erfinder, Briefentwürfe und Bittgesuche. Maria Sturmfels übernahm 1877 als erste Handarbeitslehrerin den sogenannten Industrieunterricht, eine Neuerung der Zeit. Jedenfalls wurden nachweislich bereits 1845 aus Überschüssen der Vikariatsbesoldung 150 Gulden für einen Schulneubau zurückgelegt und um dieselbe Zeit Reparaturen am Schulhause vorgenommen. Offenbar wurde damals der Schulbetrieb in einem Hause in der jetzigen Grafenstraße vorgenommen. Kurz nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist die Frage eines Schulneubaues heftig diskutiert worden. Die Gemeinde wollte nur Reparaturen vornehmen, die vorgesetzte Behörde hielt aber diese Maßnahmen für völlig unzulänglich, da damit auf die Dauer somit doch keine Änderung geschaffen würde. Im Jahre 1862 machte man sich sehr ernsthaft Gedanken über den baulichen Zustand des Schulhauses und erwog die Ermietung eines Schullokales und der Lehrerwohnung. Die Erbauung des heutigen Rathauses und damaligen Schulneubaues hat hier ihren Ursprung. Aber schon Ende 1900 verweist ein Bericht der Kreis-Schulkommission auf die wiederum äußerst schlechten Raumverhältnisse des Schulhauses in der Grafenstraße. Anstelle der Höchstzahl von 80 Kindern waren 104 in der Klasse, die Beschaffung einer zweiten Klasse wird dringend gefordert. Die Bürgermeisterei tritt 1902 mit der Bitte um einen Zuschuß für eine dritte Klasse an das Kreisamt heran, und so gewinnen die Pläne langsam Gestalt. Die Erbauung des Schulhauses in der Groß-Umstädter Straße wurde ab 1907 äußerst lebhaft diskutiert, der Architekt Völker aus Dieburg legte 1909 die Pläne vor und 1910 wurde der Baubescheid erteilt. Die Ausgangssituation für den nunmehrigen Erweiterungsbau im Jahre des Jubiläums des Gesangsvereins ist die gleiche wie vor einem halben Jahrhundert und auch vor einem ganzen Jahrhundert schon einmal.
Vom März 1905 liegt eine Eingabe des Semder Ortsvorstandes an das Präsidium der zweiten Kammer der Landstände wegen Fortführung der Nebenbahn Darmstadt - Groß-Zimmern über Klein-Zimmern nach Semd und Groß-Umstadt und eventuell nach Kleestadt und Schaafheim vor. Einmal werden als Gründe die hohen Kosten für einen Handwerker, der etwa 10 Monate in der Stadt arbeiten muss und Kost und Logie dort angewiesen ist, angeführt. Im Jahre müssten dafür 345 Mark veranschlagt werden, aber die tägliche Bahnfahrt erspare da sehr viel. In dieser Beziehung wird die Bahnverbindung als Akt der Billigkeit und Humanität gefordert. Zum anderen aber könne Semd mit seiner Landwirtschaft bedeutend mehr an die Außenwelt angeschlossen werden. Dafür bietet man handgreifliche Zahlen: Jährlich 20.000 Zentner Zuckerrüben, 6-8.000 Zentner Getreide, 10.000 Zentner Kartoffeln, 4.000 Zentner Dickwurzeln, 1.500 Zentner Stroh, 1.500 Zentner Heu, Obst je nach Jahrgängen könne dem städtischen Markt angeboten werden. Die Viehzucht produziere jährlich 1.500 Schweine, 300 Stück Groß- und Kleinvieh, 300 Schafe, jedoch an Gänsen, Hühnern, Enten „eine nicht zu erkennende Anzahl“. Dem gegenüber stehe der Bedarf an Einfuhren: circa 30 Waggon Kohlen, 15 Waggon Futterartikel, 30 Waggon Holz aus benachbarten Waldungen, 30 Waggon kunstlicher Dünger. Die Gemeinde selbst erbot sich zur Erschaffung des erforderlichen Geländes und der Übernahme der Kosten für die Vorarbeiten.
Damit soll der Streifzug durch das Semder Gemeindearchiv, der uns einige wenige Kapitel Semder Gemeindelebens vergangener Jahrhunderte vorstellte, abgeschlossen sein. Der Heimatforscher wird reichlich Gelegenheit haben, aus Material im Semder Archiv und in anderen zuständigen Archiven zukünftig die Semder Chronik ausführlicher und inhaltsreicher zu gestalten.
Zum Schluss möchte ich nur sagen, es ist zwecklos immer wieder das zu wiederholen was in früheren Festbüchern oder der Presse niedergelegt wurde, sollte ich nicht mehr sein, dann werden meine Nachkommen ihnen allen von mir ein Buch vorlegen, wie Semd seit Erstehen gelebt und bis zum heutigen Tage erlebt hat. Ich kann allen nur versichern, dass Semd amtlich schon im Jahre 945 erwähnt wird, aber das Ort Semd hat schon früher bestanden, den Beweis werde ich noch erbringen.
- Semd, im Februar 1969. Heinrich Reinhard: Ehrenbürger u. Gemeindeältester