Östlich vom Standpunkt der früheren Kapelle befindet sich die Kellerslache, gleichfalls Wald, und diesem südlich benachbart die Kirchenwiese. Nördlich der früheren Kapelle und westlich der Salzlackschneise, da, wo diese rechtwinklig von der Stockwiesen-Schneise durchschnitten wird, stand früher ein Forsthäuschen, das aus Steinen der Forstwaldkapelle erbaut worden war. Bei dieser Gelegenheit (1862) fand man noch viele Nägel. Eine kleine Säule von Sandstein befindet sich in Semd, ein Stück Kirchenfenstersturz mit Spitzbogen und Maßwerk der Forstkapelle ist auf der Ostseite des Umstädter Rathauses eingemauert. Ferner soll das frühere Schulglöckchen der Richer Schule von der Kapelle stammen.
Es muss wohl ein uralter heiliger Ort gewesen sein, an dem die Kapelle errichtet worden war. Wie P. Eidmann in seiner Abhandlung „Der Pilgerpfad, eine römische Heerstraße“ ausführt, ist der Gedanke, dass die Kapelle auf den Trümmern einer römischen Siedlung (Heiligtum?) errichtet wurde, naheliegend, weil man dort neben mittelalterlichem auch römisches Material festgestellt hat. Sie war wahrscheinlich in ihrem Umfange nicht gerade klein, sondern eher eine Kirche, was schon aus alten Aufzeichnungen hervorgeht. Der hessische Amtskeller Gewendt aus Umstadt schreibt am 16. Juni 1589 über diesen Kirchenbau: „Allein findet man obendig der Thuer solcher Kirchen die Jahrszeit, wenn derselbig steinern Baw angefangen worden, eingehauen 1416, und ferners keine Anzeigung.“ 1416 scheint also das Jahr der Erbauung gewesen zu sein. 1480 wird in einem Schriftstück erwähnt: „Ibidem conveniunt: Ombstadt Major, Sembde, Cledtstadt, Ammerbach, Rychen, Rybach, Ombstadt Minor et Zymmern, Cappelanus in Foresta“, d. h. die Bewohner dieser Orte kamen ebendaselbst bei kirchlichen Feiern zusammen, bzw. wallfahrten dahin und unterhielten dort einen Kaplan. Der Kaplan hatte seine Wohnung in dem nahen Semd, zu dem ein Fußweg in südlicher Richtung, den man heute noch den „Einsiedelpfad“ nennt, führte. Weiter wird eine „Bruderschaft“ (freiwillige Vereinigung von Klerikern und Laien ohne Gelübde) erwähnt: „die Buwenmeister (Baumeister) unser lieben Frawen Broderschaft im Forste uff allen, die der Broderschaft (etwas) schuldig (sind)". In einer Urkunde von 1481 wird wiederum diese Schuld gegenüber „unser lieben Frawen im Forst“ erwähnt. Anscheinend waren die Kirchenbaukosten erheblich gewesen, und die Gläubiger (Baumeister) drängten, nachdem Jahrzehnte nach der Erbauung vergangen waren, auf die Erfüllung der Schuldverpflichtungen. Dies geht auch aus einer Schuldurkunde des Ritters Hans Gans von Otzberg, Sohn des weiland Boppo's und seiner Gattin Else (Meinlach von) Heumaden, hervor, welche 1485 um 20 Gulden für „unser lieben Frauen im Forste“ 1 Gulden jährlicher Gülte (Zinsen) verlangen bzw. verkaufen.
Nachdem aber in Umstadt und im Umstädter Land 1547 unter offizieller Mitwirkung der hessischen und kurpfälzischen Herrschaft die Reformation eingeführt worden war, lag die Forstkapelle unbenutzt da und verfiel. Der kurpfälzische Rat Frieß in Umstadt (der Forstwald gehörte damals zu Umstadt) machte einige Jahrzehnte später darauf aufmerksam, weil die Forstkirche ohnedies wüst stünde und z. Zt. nicht notwendig sei und zu nichts gebraucht würde, möge die Stadt Umstadt bei der Obrigkeit nachsuchen, dass das Gehölz, die Steine usw. für Zwecke der Stadt verwendet werden sollten. Bei einer Zusammenkunft der Kurpfälzer und hessischen Umstädter Amtsmänner im Jahre 1588 wurde von denselben gerügt, dass das Umstädter Rathaus doch ein „alt, boeß und unbequemlicher Baw“ und zudem noch „gar zu enge gespannt“ sei. Es wäre erforderlich, etwas „ansehnlicheres an die Steth“ zu machen. Daraufhin wurde mit einer Entscheidung vom 16. Juni 1589 genehmigt, dass das Kirchenbaumaterial „Zue uffbawung eines beßeren Rathauß dieß Orts (Umstadts) bestimmt und etlich Geldt und Fruchtgefäll, die zue Besoldung eines Meßpriesters gestiftet gewesen, zue Erhaltung der Kirchengebawe von Umbstadt und Klein-Umbstadt angewendet werden sollten“.
Der Wallfahrtsort der „capella in foresta" war im Mittelalter nur eineinhalb Jahrhunderte im Blickpunkt des Zeitgeschehens. Er musste in diesem Zeitraum für unsere Gegend eine überragende Bedeutung gehabt haben. Das geht daraus hervor, dass die Stadt Umstadt noch lange Zeit nach dem Abbruch der Kirche zwei sogenannte Forstmärkte feierte. Diese fanden an den Sonntagen vor Johannis (Juni) und Michaelis (September) statt. Wahrscheinlich waren die Tage früher Hauptwallfahrtstage. Was mag bei diesen Forstmärkten für ein Leben und Treiben geherrscht haben. Nachdem die Forstkapelle abgebrochen worden war, feierte man die Forstmärkte trotzdem weiter. Sie waren ein Hauptbestandteil der städtischen Marktgerechtsame geworden und fanden nach diesem Zeitpunkt „im Feld vor der Stadt“ am Dieburger Tor statt. Anfang 1700 wurden diese Forstmärkte, weil sie „an den Heyligen Sonntagen nicht ohne große ärgernuß und Entheyligung" gehalten worden waren, auf Wochentage verlegt. Sie gerieten einige Jahrzehnte später in Abgang.
Um die Forstkapelle und ihre Entstehung rankten sich natürlich durch die Jahrhunderte hindurch sagenumwobene Erzählungen. Wir sind in der Lage, unseren Lesern gleich zwei solcher Sagen oder Legenden schildern zu können, und zwar eine alte Volkssage und eine moderne sinnbildliche Darstellung eines unserer bekanntesten deutschen Schriftsteller.
Zunächst möge einmal der alten Volkssage von der Entstehung der Umstädter Forstkapelle das Wort gegeben werden:
Eine wunderbare Errettung
Im nahen Forstwald zwischen Umstadt und Dieburg stand seit uralten Zeiten die sogenannte Forstkapelle, ein Wallfahrtsheiligtum, das besonders in der näheren Umgebung große Verehrung erfuhr. Sie war „Unser lieben Frauen“ geweiht und wurde von Andächtigen gerne besucht. Über die Entstehung dieser Waldkirche wird eine heute längst vergessene, jedoch liebliche Legende erzählt: Die Burgmänner und Burgjunker der Stadt Umstadt hatten für ihre Schutzdienste gegenüber Stadt und Zent gewisse Gerechtsame und Nutznießungen erhalten. Dazu gehörte auch u.a. die freie und alleinige Ausübung der Jagd. Es mochte so gegen Ende des 14. Jahrhunderts gewesen sein, als ein Umstädter Junker von Rodenstein eines schönen Tages die Lust zum edlen Weidwerk verspürte. Er zog allein dem nahen Forstwald zu, um einen Hirsch zu erlegen. Aber der Junker hatte an diesem Tag kein Glück. Schon neigte sich der Tag seinem Ende zu, als der Ritter, ermüdet von den Anstrengungen der Jagd, sich zu einer kurzen Rast unter eine mächtige Eiche hinstreckte, wo er alsdann in tiefen Schlaf fiel. Noch mochte er nicht lange geruht haben, als er sich plötzlich unsanft geweckt fühlte. Fassungslos rieb er sich die Augen, denn er sah um sich eine ganze Anzahl Wegelagerer versammelt, welche im Begriff standen, ihn zu berauben. Mit kräftiger Hand stieß er den Nächsten hinweg, aber den vereinten Anstrengungen der Räuber war er nicht gewachsen. Schon fühlte er seine Kräfte schwinden, aber mit unmenschlichen Anstrengungen versuchte er dennoch, seinen Gegnern, die im Begriff standen ihn zu ermorden, zu entrinnen. Da flehte er, von menschlicher Hilfe verlassen, zu Gott um Errettung empor. Mit frechen, gotteslästerlichen Worten wurde er von den Räubern ob seines vergeblichen Hilferufes verhöhnt. Aber sein Ruf war nicht vergebens gewesen. Eine Jungfrau, welche vom nahen Semd von einem Besuch durch den Forstwald zu der an der Pferdsbach gelegenen Richer Mühle, ihrer elterlichen Wohnung, zurückkehrte, hatte den Hilferuf vernommen.Mit dem Wunsche und der Hoffnung, vielleicht einem Unglücklichen oder Kranken in seiner Not Hilfe und Linderung zu verschaffen, eilte sie schnellen Schrittes nach der Stelle, von welcher der Ruf herzukommen schien. Sie trat in dem Augenblick unter die Räuber, als diese im Begriff standen, den unglücklichen Junker von Rodenstein zu ermorden.
Keines Wortes mächtig vor Erstaunen und Aufregung wegen des unerwarteten und schrecklichen Schauspiels, das sich ihren Augen bot, erhob sie nur wie drohend ihre rechte Hand. Die Räuber, welche bei ihrer Anzahl sich wohl nicht vor dem Erscheinen einiger Bewaffneten gefürchtet hätten, ließen beim Anblick dieser Jungfrau zitternd die schon zum Morde erhobenen Hände sinken und begaben sich scheu auf die Flucht, da sie in ihrer Befangenheit nicht einen Menschen, sondern ein höheres Wesen, welches Gott gesandt habe, um den Junker zu befreien, zu sehen glaubten, das sie wegen ihres Verbrechens zur Rechenschaft ziehen wollte.
Der Ritter sank vor der Jungfrau auf die Knie nieder, dankte Gott für seine wunderbare Rettung und gelobte der Gottesmutter an der Stelle, an der er vom Tode errettet worden war, eine Kapelle zu erbauen. Der Jungfrau aber, die so tapfer ihr Leben für ihn gewagt hatte, sagte er ebenfalls innigen Dank, nahm eine schwere Goldkette, die er trug, und schenkte sie ihr. Überall, wo die Nachricht von dieser Begebenheit sich verbreitete, erkannte man rühmend das edelmütige und tapfere Benehmen der Jungfrau an. Ihr zu Ehren feierte dann die Jugend von Umstadt und Umgebung, nachdem die Kapelle erbaut worden war, jeweils am Jahrestag und dem Ort der Begebenheit ein heiteres Fest, das sogenannte Rosenfest, aus dem später der Johannisforstmarkt entstand. Soweit die Volkssage.
Der bekannte Schriftsteller Werner Bergengruen bearbeitete in dem im Deutschen Taschenbuch Verlag GmbH & Co., München erschienenen Buch „Das Buch Rodensteins“ diese Sage ebenfalls unter dem Titel „Unsere liebe Frau im Forst“. Wir lassen diese Abhandlung nachstehend folgen:
Unsere liebe Frau im Forst
Erkinger von Rodenstein, pfälzischer Amtmann auf Otzberg, war ein harter und strenger Mann, feind allen Frauen, allen Kindern und allen Bauern. Um geringer Ursachen willen strafte er hart, die ihm untergeben waren; er lachte selten, hatte auch mit seinesgleichen wenig Umgang, brachte ganze Tage und Nächte auf der Jagd hin und hütete das Jagdrecht mit eifersüchtiger Härte. Wie er sich nie von Menschen etwas erbeten hatte, so erbat er sich auch nichts von Gott. Und doch hatte jeder Tag eine Stunde, zu der sein Herz sich öffnete: das war, wenn der Morgenstern am blassen Gewölbe auffunkelnd vor seinen Fenstern stand und er die Mutter des Herrn, die mit ihrem Kind tief im blauen Himmel sitzt und den goldenen Sonnenflachs spinnt, mit drei Avemaria grüßte, ehe er zur Jagd auszog; und er hätte eher des Schlafes oder der Nahrung vergessen mögen als dieser Stunde mit ihrer Übung. War aber die Stunde vorbei, und hatte er sein Schlafgemach verlassen, schloss auch sein Herz sich wieder zu, und er wusste nichts mehr von den sanften Freuden, die sich ihm verschwenderisch um die Worte des Gebets geschlungen hatten.Seiner Hasser waren nicht wenige, darunter aber gab es keinen ärger als Konrat Bock, dessen Anwesen unweit vom Hering am Waldrande lag. Es wusste ein jeder, dass Bock ein Wilderer war, und der Herr von Rodenstein wusste es auch. Wohl war dem geschickten Manne noch nie ein Wildfrevel nachzuweisen gewesen, aber auch das wusste ein jeder: wie Bock das Wildern nicht lassen würde, so würde auch der Amtmann auf dem Otzberg es nicht lassen, ihm nachzustellen, bis er ihn doch einmal beträfe und ihn an Leib und Leben würde strafen können.
Eines Tages hatte Bock einen Keiler erlegt, der ihm auf seinem Acker viel Schaden getan hatte. Am nächsten Morgen kam der Herr von Rodenstein an seiner Hofreite vorbei und saß auf dem morgenländischen Schimmelhengst, der allenthalben bewundert wurde. Nach seiner Gewohnheit ritt er allein, denn der Leute Gesichter waren ihm unleidlich, und lieber entbehrte er aller Bequemlichkeit, als dass er sie mit dem Ertragen von Gesellschaft erkauft hätte. Bock zog die Mütze, wie er es zu tun schuldig war, der Amtmann nickte spöttisch und sagte: „Schwein um Schwein! Mein Freund, du wirst von mir hören.“ Damit ritt er weiter.
Der Bauer sah ihm starr nach, bis er verschwunden war, und die Augen wollten ihm aus dem Kopfe treten vor Haß. Er fürchtete sich verraten, ohne dass er wusste, wie das hätte geschehen können. Verraten oder nicht, des Herrn Argwohn schien zu bestimmtem Verdacht geworden. Der Bauer erwog, wie die Spuren zu tilgen seien, denn er musste besorgen, der Amtmann werde in seiner Küche und Vorratskammern nachsuchen lassen. Dann aber sagte er sich: „Komme ich dieses Mal noch davon, so bringt mich das nächste ans Messer. Dies tägliche Hangen zwischen Leben und Tod ist nicht zu leiden, hier muss andere Abhilfe geschehen.“ Er ging in den Ort und erfuhr bald, was zu erfahren ihm nötig schien: dass nämlich der Herr in Geschäften nach Dieburg und Umstadt geritten war und am letztgenannten Orte über Nacht bleiben werde. Bock kehrte heim, streichelte schweigend seine Frau und seinen halbjährigen Sohn, holte die Armbrust aus dem Versteck am Waldrande, barg sie unter dem Mantel und ging davon.
Im Walde zwischen Dieburg und Richen begann es bereits dämmrig zu werden, als der Herr von Rodenstein hindurchritt, so dunkle Schatten warfen die breitästigen Eichen. Seitab hörte er einen Laut wie das Abschnurren einer Armbrustsehne, er wollte um sich sehen, da spürte er einen Stoß gegen sein Herz und schrie auf: „Noch nicht, Maria!“ Und er schrie es mit solcher Gewalt des Herzens und der Stimme, dass sein Schrei durch das Himmelstor hindurchfuhr und die Säulen des goldenen Thrones erzittern machte, auf dem die Muttergottes ihren Sitz hat. Unter seinen Schenkeln weg fühlte er den Schimmel davon-schießen, er selbst aber fiel durch dunklen Raum, tief und abertief, und alle Zeit war vorbei, bis ein heller Schein und eine streichelnde Kinderhand ihn weckten, dass er die Augen aufschlug, staunend wie ein Verwandelter.
Er gewahrte um sich einen Raum, dessen Wände waren himmelblau getüncht, und in der Ecke brannte ein Feuer, das warf funkelnde Scheine gegen die blaue Wand wie lauter goldene Morgensterne. Und mitten in der Stube saß eine Frau, die spann goldenen Flachs, und bei sich hatte sie einen Knaben, dessen Gesicht leuchtete wie ein Schneefeld im Sonnenschein, und er streckte dem Herrn von Rodenstein die Hände entgegen und lächelte ihn an, und es war, als seien alle Sterne vom Himmel gefallen, um dieses Kind lächeln und sein Gesicht glänzen zu machen. Da wurde dem Herrn von Rodenstein leicht und glücklich zumut wie noch nie in seinem Leben, er griff nach den Händen des Kindes und begann mit ihm zu spielen und begann zu lächeln und begann zu lachen, und es war ihm, als sei alle Zeit vergangen und alle Welt sei ein einziges Morgengemach, durch dessen Feuer der leuchtende Stern der Frühe hereinfunkelte.
Konrat Bock hatte den Amtmann stürzen und den ledigen Schimmel davonrennen sehen. Nun trat er hinter seiner Eiche hervor und fand den Getroffenen leblos. Ohne ihn anzurühren oder ihm etwas von Kleidung und Waffen zu nehmen, barg er seine Armbrust wieder im Mantel und ging davon.
Es war schon finster, als er von fern den Lichtschimmer seines Hauses erkannte, und über dem Birnbaum sah er funkelnd den Abendstern stehen, am Zaun aber gewahrte er etwas Weißes. Er ging näher, und das Herz gefror ihm in der Haut, als er den Schimmel des Amtmannes erkannte. Denn er konnte nicht glauben, als das Tier sei gekommen, seine Tat kund zu machen und ihn als seines Herrn Mörder vor Gericht zu laden. Mit wankenden Knien trat er hinzu, und nun nahm er wahr, dass der Hengst mit dem Trensenzügel an den Zaun gebunden stand, dass der Gurt gelockert war, das Vorderzeug gelöst und die Bügel an den Riemen hochgeschoben, nicht anders, als sei ein Reiter vom Pferde gestiegen und halte sich drinnen im Haus auf.
Die Zähne wollten ihm gegeneinanderschlagen. „Der ledige Gaul ist heimgelaufen in seinen Stall. Es hat ihn einer von des Amtmanns Leuten bestiegen und ist zu mir geritten. Ich soll nicht davonkommen, sei es nun um den Keiler, sei es nun um den Herrn.“ Er wollte umkehren, dann aber dache er, es möchte vielleicht der Reiter da drinnen seine Frau bedrängen.
Nun dünkte den Verzweifelten alles gleich. Er machte sich schussbereit und schlich lautlos dem Hause zu, um durchs Fenster zu spähen. Da ging die Tür auf, und Bock ließ die Waffe fallen und klammerte sich mit beiden Händen an den Birnbaum, um nicht in die Knie zu brechen; denn im hellen Licht trat der Herr von Rodenstein aus der Tür.
Bock konnte jede seiner Mienen erkennen; er stand ganz im Hellen, denn mit ihm war die Frau aus dem Hause getreten und leuchtete ihm mit der Kienfackel. Er blieb stehen und atmete tief. Dabei lächelte er grüblerisch vor sich hin und wiegte den Kopf wie einer, der noch nicht recht erkannt hat, was ihm widerfahren ist, und es gern erkennen möchte, doch ohne Eile, denn er weiß ja, dass das Geschehene das Rechte ist und ihm aus der Hand Gottes zukam. Dann gewahrte er Bock, trat auf ihn zu, nickte und bot ihm einen guten Abend.
Bock wollte sich auf die Knie weifen. „Gnädiger Herr . . .“, stammelte er. Aber der Amtmann hatte sich umgewandt, winkte der Frau und meinte freundlich, so dunkel sei es ja nicht und sie möge mit dem Kienspan nur wieder zu ihrem Kinde gehen. Danach kehrte er sich abermals dem Bauern zu und sagte: „Wir Menschen, Bock, wir leben in der Zeit, und alle unsere Welt steht in der Zeitlichkeit, anders soll es nicht sein. Er schüttelte den Kopf und fuhr dann fort, halblaut und geheimnisvoll: „Aber nun habe ich eine Weile außerhalb der Zeit gelebt; in der Ewigkeit habe ich gelebt! Kannst du das verstehen, Bock? Aber weil es doch außerhalb der Zeit war, darum lässt sich wohl nicht sagen, es sei eine Weile gewesen oder ein Augenblick oder eine Stunde oder sonst eine messbare Spanne Zeit. Und weil die Zeit aufgehoben war, so waren auch alle anderen Abhängigkeiten und Ordnungen aufgehoben, und so hat das geschehen können, was mir geschehen ist.“
Ein verstörter Mann, wankte Bock schweigend hinter dem Herrn her, um ihm das Zaunpförtchen zu öffnen und danach ihm den Bügel zu halten.
„Gute Nacht, Bock“, sagte der Amtmann. Er sagte es freundlich, aber es war wie die Freundlichkeit eines Abwesenden, so als habe er vor, und dies spürte der Bauer, Konrat Bocks Angelegenheit mit Wohlwollen, ja, vielleicht gar auf eine gütige Art zu ordnen, nur möge er im Augenblick nicht auf sie eingehen, denn die Dinge, die ihn gegenwärtig beschäftigen, hatten ja eine unvergleichlich viel höhere Wichtigkeit.
Der Amtmann saß auf. Aber statt abzureiten, klopfte er dem Schimmel den schönen, schlanken, gerade zur Höhe gerichteten Hals. „Du weißt mehr als ich von dem Vorgefallenen“, flüsterte er ihm zu. „Könntest du sprechen, von dir wäre alles zu erfahren. Aber weil Gott dir nun einmal die Rede versagt hat, so denke ich, es ist wohl nicht in seiner Absicht, dass ich verstehe, wie dies alles zugegangen ist. Und was wäre denn auch gewonnen, wenn ich es verstünde?“
Danach winkte er dem Bauern und ritt davon.
„Wir haben einen sonderbaren Besuch gehabt“, meinte die Frau kopfschüttelnd, als Bock zu ihr in die Stube trat.
Erkinger von Rodenstein fügte in der Folge, ohne dass jemand recht gewusst hätte, weshalb, seinem Wappen einen Stern als Helmkleinod bei. Konrat Bock nahm er als Wildhüter in seinen Dienst und verbriefte ihm, dass sein Sohn dereinst die Stelle von ihm erben sollte. Im Wald zwischen Dieburg und Richen ließ er unter den alten Eichen eine Kapelle erbauen, die „Unserer lieben Frauen im Forst“ genannt wurde. Und er versäumte es nie, einzutreten und sein Gebet zu verrichten, sooft er auf der Jagd in ihre Nähe geriet, und Bock tat desgleichen. Von dem Vergangenen war nur ein einziges Mal unter ihnen die Rede. Nämlich als die Kapelle geweiht worden war und sie sich danach auf den Heimweg machen wollten, da sagte der Herr von Rodenstein zu seinem Wildhüter: „Wir haben einander nach dem Leben gestanden, und es hat die Folge gehabt, dass die Zeit einmal ein wenig gelüpft worden ist und es ist ein Stückchen von der Ewigkeit vorgekommen wie der Morgenstern aus den Frühwolken.“
In vielen Stücken hatte der Herr von Rodenstein ein neues Wesen angenommen; der Jagd indessen lag er noch ob wie zuvor. Allein es geschah nun bisweilen, dass er keinerlei Wildbret mit nach Hause brachte. Denn manchmal, wenn er im Walde Hirtenbuben oder beerensuchenden Bauernkindern begegnete, stieg er vom Pferde, half ihnen pflücken, beschenkte sie, sang allerhand einfältige Kinderverse mit ihnen oder nahm an ihren Spielen teil. Und endlich galt er dem ganzen Odenwälder Ritterschaftskanton als ein kindischer Sonderling, und wie er früher die Herren der Nachbarschaft gemieden hatte, so mieden sie nun ihn. (1967).