Wie sich die Zeiten ändern

Eine kleine Chronik über das Leben im Dorf Semd

Bilder und Text mit freundlicher Genehmigung von Christoph Ohl
Im Jahr 1793 war Semd schon ein großes Dorf, dessen 1365 Einwohner sich hauptsächlich von der Landwirtschaft ernährten. Die circa 290 Familien wohnten auf für heutige Verhältnisse kleinem Raum. Zum damaligen Ortskern zählten die heutige Ernst-Reuter-Straße (Bachgasse) beidseits des Bachlaufs, die Dieburger Straße (Heckengasse) bis Haus Kolb, die Grafenstraße (Grewegasse), die Heinrichstraße und Lichtbergstraße (es Gäßchen), die Habitzheimer Straße (Mühlgasse), die Oberendstraße (der Berg), die Groß-Umstädter Straße bis zur Schule (das Eck) und die Glockengasse (Kirchgasse).

In Semd gab es nur einige wenige größere Höfe, die meisten Hofstellen waren klein und oft sehr eng. Der größte Teil des Feldes und auch ein großer Teil der Häuser und Stallungen gehörten adligen Grundbesitzern und der Kirche. Bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1812-13 waren die Rechte der oft sehr armen Bauern durch Frondienst und Abgaben an die Landbesitzer äußerst eingeschränkt.

Aus dem Jahre 1793 liegt eine Kriegs-, Fourage- und Proviantrechnung vor; je nach Grundbesitz und Vermögen mussten alle Bürger zum Unterhalt und zur Verpflegung der Soldaten beitragen. Auch die Pferde der Bauern blieben im Kriegsfall nicht verschont, sie mussten einer Musterungskommission vorgestellt werden, die entschied, welches Pferd als Reit- oder Gespannpferd im Kriegsfall eingezogen wurde. So berichtet die überlieferung von einem Semder Bauern, der mit seinen Pferden am Russlandfeldzug Napoleons teilnahm und der zusammen mit seinen Pferden wieder gesund zurückkam.

Nach den Napoleonkriegen wurden aus den meist Leibeigenen freie Bauern. Der Frondienst und der Zehnte wurden durch die Grundsteuer und andere Abgaben ersetzt. Auch konnten Bauern, die Land adliger Familien zu Lehen hatten, dieses käuflich erwerben. Die sogenannten Erbleihhöfe wurden durch Zahlung einer jährlichen Ablösesumme zum Eigentum der Bauern. Diese Verträge hatten oft eine Laufzeit von 70 – 100 Jahren, bis das Land endgültig den Bauern gehörte. Einige adelige Familien behielten aber auch ihr Land und verpachteten es vor allem an kleinere Bauern. So besitzen bis heute die Freiherren von Gemmingen, Fechenbach, Wamboldt, Löwenstein und andere Familien sowie die evangelische und katholische Kirche Teile der Semder Gemarkung.

Die Gemarkung Semd umfasst 1599 ha Land, davon sind ca. 800 ha Wald, der dem Land Hessen gehört. Im Süden und Osten grenzen die Gemarkungen Habitzheim und Groß-Umstadt bis fast an die heutigen Ortsgrenzen von Semd. Während im Norden und Westen die Semder Gemarkung bis an die Ortsbereiche von Richen, Altheim, Dieburg und Klein-Zimmern heranreicht. Die sogenannte Forstmühle in Altheim gehörte bis zum Jahre 1927 zu Semd.

Eine besondere Geschichte hat das kleine Wiesental, die Taubensemd, das im Süden zwischen die Gemarkungen Groß-Umstadt und Habitzheim hineinreicht. Es ist eine Stiftung der Rauhgräfin von Katzenelnbogen an Semd. Noch heute läuten die Glocken täglich um elf Uhr morgens zu ihrem Gedenken.

Der tiefgründige Lößlehm, der den größten Teil der Gemarkung Semd bildet, eignet sich aufgrund seiner Fruchtbarkeit für alle Ackerfrüchte. Einen wesentlich größeren Teil des Gebietes als heute nahmen früher die Wiesen ein, denn an vielen Stellen stand das Grundwasser sehr hoch, sodass sich das Land nicht zum Ackerbau nutzen ließ. Ein gut funktionierendes Graben- und Dränage System wurde erst in den Jahren 1925-30 gebaut.

Die Äcker wurden nach der traditionellen Dreifelderwirtschaft bestellt, in der Folge Wintergetreide, Sommergetreide und Brache. Das Brachland wurde seit 1750 durch den Kartoffel-, Rüben-, Klee- und Flachsanbau verdrängt. Die Wiesen bildeten die Futtergrundlage für eine ausgedehnte Viehhaltung. Auf Veranlassung des Groß-herzoglichen Kreisamtes in Dieburg musste die Gemeinde 1859 drei Wiesenwärter einstellen, welche die Be- und Entwässerungsgräben sowie die Nutzung der Wiesen überwachten. Da im Wiesengrund nur wenige Wege vorhanden waren, konnten viele Grundstücke nur über Nachbarwiesen erreicht werden. Um Streitigkeiten vorzubeugen, blieb der Wiesengrund vor der Heuernte gesperrt und man durfte die Wiesen erst ab dem von einer Wiesenkommission festgelegten Termin mähen und befahren.

Auch der Wald wurde in vielfältiger Weise durch die Bauern genutzt. Die Gemeinden Semd, Altheim und Richen hatten sogenannte Miet- und Weiderechte. Jährlich wurden ihnen festgelegte Reviere für das Weiden von Gänsen, Schweinen und Rindern sowie das Einsammeln von Laub, das für das Streuen in den Ställen gebraucht wurde, zugeteilt. Zu bestimmten Zeiten trieben dann die Semder Hirten die Tiere der Bauern in den Wald. Natürlich hatte auch die Nutzung des Waldes ihren Preis. Für jedes Tier musste ein genau festgelegter Betrag, meist in Form von Hafer (der sogenannte Forsthafer), an den Besitzer des Waldes, den Großherzog in Darmstadt, abgeliefert werden. Wie wichtig die Nutzung des Waldes den Bauern war, wird durch die Tatsache bekräftigt, dass der Weg, auf dem das Vieh vorbei an der Untermühle in den Wald getrieben wurde, besonders breit angelegt war. Noch heute hat der Mühlweg eine Breite von acht Metern.

In Semd wurde außerdem Obst- und Weinbau in starkem Maße betrieben. Rings um den alten Ortskern befand sich ein dichter Kranz von Obstgärten. Nach einer Obstbaumzählung aus dem Jahr 1913 standen um Semd 3517 Äpfel-, Birnen-, Zwetschgen- und Kirschbäume, die wohl hauptsächlich zur Selbstversorgung dienten. Hierbei wurden die Obstbäume entlang der Landstraßen nicht mitgezählt.

Der Weinbau muss wohl um 1870 aufgegeben worden sein. Auf ihn weisen nur noch Flurnamen wie "Die Semder Wingerte" oder der Straßenname Rebenstraße (früher Weinbergstraße) hin.

Sehr vielschichtig war die Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe. Fast zu jedem Haus gehörte auch ein Stall und eine Scheune, und auch die meisten Handwerker- und Arbeiterfamilien hielten zur Versorgung mit Nahrungsmitteln Hühner, Gänse, Ziegen, Schweine und Kühe und bebauten ein Stück Garten oder Ackerland. Schafhaltung wurde nur von einem Betrieb in größerem Maße betrieben.

Nach einer Pferdezählliste gab es im Jahr 1878 58 Bauern, die Pferde hielten. Es waren dies die größeren landwirtschaftlichen Betriebe zwischen 7 – 20 ha Größe. Die wohlhabenden unter ihnen stellten sich auch Mägde und Knechte für die schwere Arbeit ein. Aus dem Jahr 1859 liegt ein Gesinderegister vor, aus ihm ist zu ersehen, dass diese Dienstboten oft aus der weiteren Umgebung, dem Odenwald (hier besonders aus dem Mümlingtal) und auch aus dem Spessart stammten.

Der kleinere Bauer bestellte seine Felder mit dem Kuhgespann, es war bis in die 50er Jahre unseres Jahrhunderts ein vertrautes Bild auf den Semder Straßen. Diese sogenannten Kuhbauern gingen meist noch einer Nebenbeschäftigung nach, hatten einen kleinen Handwerksbetrieb, eine Gaststätte oder einen Laden. So gab es in Semd meist ein oder zwei Schmiede, Wagner, Schreiner, Schneider, Schuster, Weber und Müller.

Um die Jahrhundertwende gab es dreizehn Gastwirte und fast in jeder Straße einen Laden für die Dinge des täglichen Bedarfs.

Familien, die zu wenig besaßen, um sich ein Gespann leisten zu können, ließen sich ihre Äcker von Bauern, die ein Gespann besaßen, bestellen. Als Gegenleistung halfen sie dann diesen bei allen vorkommenden Arbeiten, wie z.B. der Heu-, der der Getreide-, der Kartoffel-, oder der Rübenernte. Am Ende des Jahres wurde dann die geleistete Arbeit gegeneinander abgerechnet. Solche "Gegenhilfeverhältnisse" hielten sich oft über viele Jahrzehnte.

Da die Männer dieser Familien meist einer Tätigkeit außerhalb der Landwirtschaft nachgingen (Sie waren Zimmerleute, Maurer und Arbeiter, die meist in den Städten der weiteren Umgebung tätig und oft nur über Sonntag zu Hause waren.), war die Arbeitsbelastung für Frauen und Kinder dieser Kleinstbauern (sogenannte "Gaßbauern") sehr groß. Das Futter für die Ziegen ("Gaße") musste täglich in mühsamer Arbeit geholt werden. Das Gras an den Wegrändern, Feldrainen und Straßenrändern wurde mit Sichel oder Sense gemäht und meist in einem Bündel auf dem Kopf nach Hause getragen.

Für besitz- und mittellose Bürger gab es in Semd zwei sogenannte Gemeindehäuser. In ihnen hatten auch die von der Gemeinde eingestellten Hirten, die in Semd meistens die Schweine und die Gänse hüteten, ihr Zimmer. Als für heutige Verhältnisse unsozial erscheinend muss man die Neueinstellung eines solchen Hirten bezeichnen. Wenn mehrere Bewerber zur Wahlstanden, wurde der genommen, der die geringsten Forderungen stellte. Der letzte Semder Gänsehirt stellte seine Tätigkeit erst 1952 ein. Allmorgendlich zog er mit seiner Klepper durch die Straßen und sammelte die Gänse ein. Eine ansehnliche Gänseherde trieb er dann in den sogenannten Gänseanger, ein eingezäuntes Stück gemeindeeigene Wiese am Bach, das sich dort befand, wo heute die Kläranlage ist. Dort blieben die Gänse, oft 200 300 Stück, bis zum Abend.

Ein einmaliges, heute unvorstellbares Erlebnis war es dann, wenn der Gänsehirt abends das Tor des Gänseangers öffnete. Dann suchte die ganze Herde fliegend und schreiend ihren Heimweg.

Ein weiterer Gemeindebediensteter war der sogenannte "Ochsenfütterer". Gefördert durch die Großherzogliche Verwaltung wurde 1830 der erste, gemeindeeigene Faselstall in der Grafenstraße gebaut. In ihm waren zur Förderung einer geordneten Tierzucht zwei bis drei Bullen, zwei Eber sowie meist zwei Ziegenböcke untergebracht. Die Viehhalter durften ihre weiblichen Tiere nur von diesen gekörten Vatertieren decken lassen. Über alle Deckakte wurde vom Ochsenfütterer genau Buch geführt. Futtergrundlage war das Heu der gemeinde- eigenen Wiesen und die Abgaben, die in Form von Deckgeld und Futterhafer für alle Tiere zu entrichten waren. Der Neubau eines Faselstalls mit Wohnung wurde 1928 in der heutigen Hügelstraße errichtet. Der letzte Faselwärter (Ochsenfütterer), der dort gleichzeitig wohnte und seinen Dienst versah, war Johann Seibert (genannt "Dine Joa"). Johann Geier war dann der allerletzte Ochsenfütterer. Ende der 60er Jahre wurde die gemeindeeigene Bullen- und Eberhaltung aufgegeben, verdrängt durch die künstliche Besamung. Heute befindet sich in den ehemaligen Stallungen und dem Heuboden Schießstand und Schützenhaus des Semder Schützenvereins.

Für den Schutz der Felder vor Diebstahl und anderer "Feldfrevel" war der Feldschütz zuständig. In dieses Amt wurde meist ein "kleinerer" Bauer berufen, der eine Art Rügenregister führte, in dem er die Übeltäter und ihr Vergehen aufschrieb.

Da die Hälfte der später ausgesprochenen finanziellen Strafen in seine eigene Tasche floss, hatte er ein großes Interesse daran, möglichst viele Diebe und andere Missetäter aufzuschreiben.

Mehrmals jährlich trat dann das sogenannte Hubgericht unter Leitung des Schult- heißen zusammen, um die Strafen für die Schuldigen festzulegen. Dies geschah oft sehr willkürlich und war stärkeren Schwankungen unterworfen. Aus diesen Gründen war der Feldschütz meist sehr unbeliebt und das Amt des Feldschützen wechselte sehr oft (meist jährlich).

Polizeidiener und Nachtwächter waren weitere Gemeindeangestellte. Das Amt des Polizeidieners war meist mit dem des Faselwächters verbunden. Er war die rechte Hand des Schultheißen (später Bürgermeister genannt). Zu seinen Aufgaben gehörte unter anderem das sogenannte "Ausschellen". Zweimalwöchentlich ging er durch die Ortsstraßen und verlas die Mitteilungen des Bürgermeisters an die Bevölkerung. Vorher machte er mit lautem Schellen mit seiner "Gemeindeschelle" auf sich aufmerksam.

Zum Amt des Schweine- bzw. Gänsehirten gehörten meist auch die Aufgaben des Nachtwächters. Stündlich nach Einbruch der Dunkelheit ging er mit seinem "Nachtwächterspieß" durch die Straßen und rief die Zeit aus. So vermittelte er der schlafenden Bevölkerung ein gewisses Gefühl der Sicherheit.

Ein öffentliches Backhaus wurde um 1870 im ehemaligen Schulhaus in der Bachgasse eingerichtet. Hier hatte jede Familie die Möglichkeit, ihr Brot oder ihren Kuchen zu backen. Brennmaterial musste jeder selbst zur Verfügung stellen. Die "Backesfraa" überwachte den Backvorgang, und unter ihrer Aufsicht wurde die Reihenfolge des Backens ausgelost.

Trotz allen Fleißes blieb die Semder Bevölkerung von Missernten und Notzeiten nicht verschont. Besonders 1847 und 1854 brachen in Folge eines totalen Ausfalls der Kartoffelernte und einer Missernte beim Getreide Hungersnöte aus. Dies und auch die politische Entwicklung nach dem Revolutionsjahr 1848 führte zu einer starken Auswanderungsbewegung. Besonders nach Amerika wanderten viele Semder aus. Auch das ging nicht ohne Bürokratie ab. Ein Antrag musste zwecks Entlassung aus dem Untertanenverband an das Großherzogliche Kreisamt in Dieburg gestellt werden. Aus Unterlagen im Gemeindearchiv Semd geht hervor, dass besonders in den Jahren bis 1859 ganze Familien ihre Heimat für immer verließen.

Nachdem sich über Jahrhunderte an der Ausstattung der bäuerlichen Betriebe wenig geändert hatte, setzte Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein starker Wandel ein. Lediglich Pflug, Egge und Wagen gehörten bis etwa 1890 zur Ausstattung eines bäuerlichen Betriebes an Maschinen.

Alles war harte Handarbeit, gemäht wurde mit Sense oder Sichel, gedroschen mit dem Dreschflegel und gesät mit der Hand. Die erste Dreschgenossenschaft bildete sich 1892. Die Dreschmaschine wurde von einer Dampfmaschine angetrieben und in einer Dreschhalle am Ortsausgang Richtung Dieburg untergestellt. Einige Jahre später wurde eine zweite angeschafft.

Wer nur wenig Getreide anpflanzte, fuhr es zum Dreschen direkt zu diesen Dreschhallen. Größere Bauernbetriebe lagerten ihr Getreide in ihren Scheunen ein. Nach der Ernte wurden dann die Maschinen von Hof zu Hof gefahren, und das Getreide wurde in den einzelnen Höfen gedroschen. Die ersten Mähmaschinen und auch Sämaschinen kamen etwa um 1900 nach Semd, Heuwender und gezogene Heurechen etwas später, und zwar nach 1920.

Der elektrische Strom hielt von 1908 bis 1910 seinen Einzug in Semd. Elektrischer Antrieb für viele Maschinen, wie Rübenmühle, Schrotmühle, Jauchepumpe und andere erleichterten jetzt die Haus- und Hofarbeit.

In Groß-Umstadt wurde 1885 eine Zuckerfabrik errichtet. Viele Semder Bauern pflanzten nun auch Zuckerrüben an und waren an der genossenschaftlichen Fabrik beteiligt.

Der Mähbinder erleichterte ab etwa 1930 die Arbeit in der Getreideernte. Er wurde meist gemeinschaftlich von mehreren Betrieben genutzt. Vor 1950 gab es nur drei Schlepper in Semd, sie wurden als Zugmaschinen oder zum Pflügen eingesetzt. Bis 1960 besaß dann jeder Landwirt in Semd seinen eigenen Traktor, und fast alle anfallenden Feldarbeiten konnten maschinell erledigt werden. Pferd- und Kuhgespann wurden vollständig verdrängt.

Ähnlich war die Entwicklung, die durch den Mähdrescher ausgelöst wurde. In nur wenigen Jahren verdrängte er Mähbinder und Dreschmaschine.

Die wirtschaftliche und politische Entwicklung der letzten 30 Jahre führte dazu, dass viele Nebenerwerbs- und auch Vollerwerbsbetriebe aufgegeben wurden. Heute gibt es in Semd nur noch etwa 20 Familien, die im Haupt- oder Nebenerwerb Landwirtschaft betreiben und ihre Zahl wird voraussichtlich noch weiter zurückgehen.

Aus dem früher reinen Bauerndorf ist nun eine Wohngemeinde für Arbeiter, Angestellte und Beamte geworden.