Semd und seine Umgebung (1927)

Sonntag ist’s und ringsum herrscht Feierstimmung in der Natur. Ein Wandersmann strebt von der Landeshauptstadt über Groß-Zimmern seinem Ziele, unserm Heimatdorfe Semd, entgegen, ihm schließen wir uns an. Schon von ferne kann er die Gipfel einer Pappelreihe als die ersten Begrüßer erkennen und leuchtet ihm das neue Schulgebäude in seinen hellen Farben entgegen. Inmitten eines Talkessels ca. 147 m über dem Meeresspiegel erreicht er unseren Ort. Im Osten erblickt man die Groß-Umstädter Berge, im Süden die stolzen Berge des Odenwaldes und grüßt in nächster Nähe der Otzberg mit seiner massigen Burg. Nach Westen erblickt man die bewaldete Erhebung des Mainzer Berges und sonstige nach Darmstadt in mäßiger Höhenlage verlaufenden Wälder. Den schönsten Abschluß finden wir nach Norden, in Form eines jetzt in schönster Pracht prangenden Waldes. Verschiedene Namensbezeichnungen hat unser Dorf im Laufe und Wandel der Zeit schon erlebt. Eine Urkunde von 836 berichtet von Siemina. In den späteren Zeiten finden wir Semd mit Morsembdt, Sembdt, Semdt, Semd. Von der Semme durchflossen wird das Dorf in zwei Teile geteilt. Dieser im allgemeinen meist wenig Wasser führende Bach tritt manchmal bei Regenwetter zum Unwillen der anwohnenden Bewohner aus seinen Ufern heraus, welchem Umstande soll ja durch eine mit der Feldbereinigung verbundenen Bachregulierung schon in diesem Jahre ein und für allemal Abhilfe geschaffen werden. Der Bach bildete in früheren Zeiten die Grenze zwischen den Grafschaften der Pfalzgrafen und der von Katzenellenbogen und damals auch die Grenze zwischen den lutherischen und reformierten Konfessionsgemeinden, da die Untertaten der damaligen Zeit stets die Konfession dieser Herrscher annehmen mußten. Durch Wegheiraten und Umzug sind jetzt allerdings beide Konfessionen vermischt. Der größte ansässige Teil der Ortsbürger ernährt sich hauptsächlich von Landwirtschaft und sucht aus dem Lehmboden soviel als möglich herauszuholen. Gewerbetreibende und ein Stamm guter in den näheren und weiteren Städten gesuchte, im guten Ruf stehende und mit Vorliebe beschäftigten Handwerker bilden den anderen Teil der Bewohner. Die Einwohnerzahl beträgt ca. 1100 Seelen.

Auf die diesbezüglichen Bemühungen des Herrn Pfarrer Hahn in Groß-Umstadt, welcher für die Schützengesellschaft Semd sich hierfür bereit erklärte, ist es gelungen, das von unseren Vorfahren eingeführte Ortswappen wieder einwandfrei durch Herrn Archivrat Dr. Klemm aus Darmstadt feststellen zu lassen. Es stellt dies einen heraldisch gekleideten Mann dar, der in der rechten Hand eine Waage und in der linken den Spiegel der Wahrheit trägt. Wahrscheinlich sollte dieses Wappen die Zugehörigkeit zu den Zentgerichten zu Groß-Umstadt oder die eigene hiesige Gerichtsbarkeit dokumentieren.
Während der bayerischen Fehde in den Julitagen 1504 hausten hessische und andere Kriegsknechte in unserem Dorfe schwer, wobei sie raubten und plünderten. Das nach dem Walde hin gelegene Dorf Steinhausen soll damals in Flammen aufgegangen und verschwunden sein.
Im dreißigjährigen Kriege wurde das Dorf hart mitgenommen, mußte in den Jahren 1623 und 1637 Plünderung, Raub und Zerstörung über sich ergehen lassen. Die Bewohner flüchteten damals nach dem bewehrten Grozen-Umstadt. Früher war die Lage des Dorfes auch eine andere und finden wir im sogenannten Niederend, eine aus kleinen Parzellen bestehende landwirtschaftlich und gärtnerisch benutzte Gewann, in geringer Tiefe noch Mauerrest aus jener Zeit. Die hiesige Gegend muß schon in grauer Vorzeit besiedelt gewesen sein. Im nahen Forstwalde wurden durch Wurzeln verwachsene Steinbeile und andere Gebrauchsgegenstände der alten und neuen Steinzeit zum wiederholten Male gefunden. Eben daselbst finden wir Erdhügel, die die charakteristischen Eigenschaften der germanischen Gräber zeigen. Ein Gräberfeld aus der römischen Zeit finden wir östlich dem Dorfe in der Nähe der neuen Friedhofes und wurden daselbst schon steinerne Sarkophage mit Glasgefäßen gefunden. Welch große Naturereignisse in früherer Zeit über die hiesige Gegend ergangen sind und wie dies alles gestaltet war, ist schwer zu ergründen. In geringer Tiefe an einigen Stellen im Ort lagernde Baumstämme geben Zeugnis davon, daß gewaltige Überschwemmungskatastrophen in früherer Zeit stattgefunden haben müssen. Der untere Stock eines hiesigen Wohnhauses soll zum größten Teil von einem solchen Baumstamm von ungeheurer Dicke hergestellt sein.
Architektonische Bauten einer früheren Zeit, wie wir sie im nahen Groß-Umstadt finden, sind leider in unserem Dorfe, welches die Schrecken obengenannter Kriege mitmachte, nicht zu finden. Wir betreten zuerst die Grafenstraße. Ihr Name soll daher kommen, daß in einer früheren Zeit ein Grafengeschlecht hier sein Domizil gehabt haben soll. Nicht weit vom Eingang finden wir das alte Schulhaus, jetzt Rathaus. Nur noch im oberen Stocke wird ein Raum zu Schulzwecken verwendet. Ein Fräulein bemüht sich zur Zeit die Kleinsten in die Geheimnisse der deutschen Ortographie und Schrift einzuweihen. Im unteren Geschoß finden wir die Bürgermeisterei mit diversen Räumen und der Rathaussaal. Herr Bürgermeister Heyl leitet z.Zt. in umsichtiger und gerechter Weise die Geschicke des Dorfes. Die Sehnsucht aller jungen Mädchen finden wir ebenfalls dort, das Standesamt. Nicht unerwähnt darf man lassen die im Rathaussaal stattfindenden Gemeinderatssitzungen. Je nach Einstellung des einzelnen Zuhörers werden die dort gefaßten Beschlüsse in erfreulicher oder weniger erbaulicher Weise aufgenommen. Dicht daneben finden wir zwei Gasthöfe, und ist es den Herren Stadtvätern hier vergönnt nach angestrengter geistiger Tätigkeit ihre angestrengten Sinne durch geistreiche Getränke wieder aufzufrischen. In unmittelbarer Nähe finden wir in einer kleinen Gasse den weitgereisten Wächter des Dorfes, den Storch, in der Bachgasse das alte Rathaus.


Die Bachgasse
auf einer Postkarte 1971

Es ist dies wohl eines der ältesten hiesigen Bauten und läßt seine spitzgiebelige Form usw. auf eine Bauzeit in den Jahren von 1740-1760 schließen. Unten darinnen finden wir das Gemeinde-Backhaus in dem die Ortseinwohner das beliebte und kräftige Bauernbrot selbst backen. Die charakteristisch gemauerten spitzen Schornsteine sind verschwunden.
Im Oberend ist die Stätte wo nach dem dreißigjährigen Kriege die ersten zurückgekehrten Ortseinwohner wieder das Vertrauen zur alten Heimat gefunden haben. Es waren dies die Familienoberhäupter der beiden Familien Menges und Mohrhard, die die Pest und den dreißigjährigen Krieg überstanden hatten. Nach den alten Erzählungen sollten diese, nachdem sie sahen, wie ein Taubenpaar, das sich in dem vom Herd durch den Schornstein einer Hütte herausgewachsenen Holunderbaum häuslich nistete, gesagt haben: „Wo Tauben wohnen, da können auch wir leben.“ Im ganzen wird erzählt und beurkundet, daß Semd, das bei der behördlich veranstalteten Volkszählung im Jahre 1635 60 Ortseinwohner hatte, nach den Pestjahren und dem dreißigjährigen Kriege nur noch 9 Köpfe zählte.
In der Nähe finden wir die Taubensemd, ein in früherer Zeit von der Rauhgräfin an die Gemeinde geschenktes Wiesengelände. Zu ihrem Andenken ertönt noch heute vormittags um 10 Uhr das Gesamtgeläute der Kirchenglocken.
Nicht weit davon ist die sagenumwobene Stiel.


Die evang. Kirche
auf einer alten Postkarte

An der "Lengfelder Brücke"
auf einer Postkarte von 1917

Die Grundschule
auf einer Postkarte von 1917

Ecke Kirch- und Heckengasse befindet sich die Kirche. Diese in der Zeit des sogenannten Zopfstieles (Louis XVI.) mit einem Einschlag in die Formen des Barockes, wurde im Jahre 1792 erbaut. Der Turm stammt aus einer viel älteren Periode. Ein am Eingang eingemauertes Figurbild (Kreuzigungsgruppe) soll nach dem dreißigjährigen Krieg im Felde bei Klein-Zimmern gefunden worden sein. Von woher Kriegsvölker während des dreißigjährigen Krieges dieses dorthin verschleppten und wie alt dasselbe sein könnte ist unbestimmt. Seit dem Jahre 1926 besitzt unsere Kirche ein neues Geläute, nachdem die Zahl der vorhandenen Glocken nach Kriegsablieferung auf 2 zurückgegangen war. Das ältere Geläute stammte aus dem 18. Jahrhundert. Schon einmal und zwar im Jahre 1647, als die Franzosen unter Marschall Turenne in der hiesigen Gegend, vor und nach der Einnahme des Otzberges hausten, mußte Semd, da es seine Kriegkontributionen nicht bezahlen konnte, seine Glocken hergeben. Heute noch soll sich eine dieser Glocken in der Wallfahrtskirche zu Dieburg befinden. Die Orgel, die den Formen der Kirche ziemlich gut angepaßt ist, trägt ebenfalls die Stilmerkmale der damaligen Zeit, doch wußte der Erbauer derselben diese durch größeren ornamentalen Schmuck auszugestalten. Der anschließende Kirchengarten diente früher, wie es auf dem Lande üblich war, als Friedhof. Hier finden wir auch die Kriegerdenkmäler der im Krieg 1879/71 sowie im letzten Weltkrieg 1914/18 Gefallenen, durch welche unsere Gemeinde seine verstorbenen Helden ehrte.
An der sogenannten Lengfelders Brücke finden wir den Platz worauf an den Kirchweihtagen etc. reges Leben herrscht.
Am Ausgang des Ortes, an der Straße nach Richen steht das neue Schulhaus mit seinen großen Fluren und kleine Sälen.
In der Gegend zum Walde hin (Einsiedel) ist die Stelle wo sich früher die Ortschaft Steinhausen befand und sind bei den Feldarbeiten bis in die jüngste Zeit hinein dort Steine als Übrigbleibsel gefunden worden.
Ein schöner und stattlicher Wald empfängt uns. Fichten, Eichen, Buchen und Kiefern wechseln in fachmännisch wohl durchdachter Weise miteinander ab. Die im unteren Straßenquartier sich befindende Gambseiche dürfte wohl der älteste Baum in diesem Walde sein. Das Alter dieses Baumriesen von ca. 160-170 cm Durchmesser wird in forstfachmännischen Kreisen auf ca. 420 Jahre geschätzt. Ein großer Teil der Umgebung unseres Ortes soll früher Wald gewesen sein. Verschiedene Feldgewanne geben heute noch Zeugnis davon. Im Höhnes finden wir heute noch teilweise verkrippeltes Gebüsch von Eichen. Die Namen der Gewannen „Im gehauenen Holz“ sowie „Bei den Eichbäumen“ und den „Frostäckern“ stammen wohl auch davon. So finden wir auch ein neues Ackerfeld an der Straße von Semd nach Richen. Ein schöner Hochwald „Fuchsbau“ wurde um Siedlungsland zu schaffen, hier abgeholzt. Beide Wälder, Ober- und Mittelforst befinden sich in der Gemarkung Semd, sind aber fiskalisches Eigentum. Die Hohe Straße, die durch den Wald führt, ist ein Teil der Römerstraße, die früher von Würzburg nach Paris zog. Der Reiterspfad soll daher seinen Namen tragen, daß die Ritter der früheren Zeit denselben benützten, um von der Feste Otzberg nach Aschaffenburg zu gelangen. Wohl mag dieser Pfad früher eine etwas andere Lage besessen haben, wird doch in den Erzählungen berichtet, dass ein frommer Ritter, der hier von Wegelagerern überfallen wurde, die heilige Jungfrau in der Nähe einer damaligen Einsiedlung um Schutz anrief. Und dadurch, daß ein Mädchen, das von Altheim nach Semd ging und die Notschreie hörte, auf dem Platz in der Nähe der damaligen Einsiedelei erschien, von den Wegelagerern als die heilige Jungfrau angesehen wurde, sodass diese von ihrem Opfer abließen und flüchteten. Zum Danke für diese Befreiung tat dieser Ritter das Gelübde, an jener Stelle eine fromme Stätte zu errichten und ließ daselbst ein Kloster erbauen. Urkundlich wird aus dem Jahre 1840 von einer Bruderschaft der lieben Frauen-Forstwaldkapelle bei Semd berichtet. Ein größerer Teil des Holzwerkes von dem Groß-Umstädter Rathaus soll von diesem Kloster stammen. Bis in die Jetztzeit knien an dieser Stelle Wallfahrtszüge zum Gebete nieder und heute noch sind dort in unmittelbarer Nähe etliche Brücken über die vorhandenen Gewässer.


Die Semder Schützen bei der Einweihung des
neuen Schießstandes an der Untermühle

Dem Dorfe wieder zugewandt sieht man ein einzelnes Gehöft, die Untermühle. Das Getriebe der Räder und das Geklapper der Mühle ist verstummt und ist dagegen dem Wandersmann hier Gelegenheit geboten sich bei Speise und Trank frisch zu stärken. Die Wirtin versteht es vortrefflich Schinken und Eier zu kredenzen. Neue Aufbauten nebenan geben das Vorhandensein des neuen Schießstandes der Schützengesellschaft Semd bekannt.

Semd, im Juni 1927
Adam Storck IV., Schreinermeister


Der vorstehende Text sowie die Grafiken wurden der Festschrift anläßlich des Gau-Schützenfestes der Schützengesellschaft Semd von 1927 entnommen.

Karlheinz Müller