SEMD. Es ist still an diesem kalten Herbstabend in Semd. Die Fenster des Traditionsgasthauses „Krone“ spendieren der Straße einen gelben Schimmer. Fackeln und Laternen flankieren den Eingang. Ob auch schon Johannes Bückler – alias Schinderhannes – so empfangen worden ist? Darum geht es oben im Saal.
Es ist nicht der erste Abend, den die Agenda-Gruppe Heimatgeschichte zum Thema „Semd und die Räuber“ veranstaltet. Aber der erste, für den Räuber-Spezialist Karlheinz Müller den Groß-Umstädter Heimatforscher Robert Hess gewinnen konnte.
Voll ist es im Saal, und während es draußen zu kalt ist, ist es drinnen zu warm. Musikalisch werden die Gäste eingestimmt mit dem von Carl Zuckmayer gedichtete Lied: „Das ist der Schinderhannes, der Lumpenhund der Galgenstrick, der Schrecken jedes Mannes, und auch der Weiberstück!“ Vor allem Kulturstadträtin Renate Filip, unterm weißen Häubchen erst auf den zweiten Blick zu erkennen, legt sich mächtig ins Zeug am Schifferklavier. Und viele singen mit.
Mit Reflexionen über Zuckmayers 1927 geschriebenes Stück, das den Räuberhauptmann zu einem Freiheitshelden stilisiert, beginnt Hess seinen kenntnisreichen Vortrag. Wir lernen: Die große Räuberzeit in Deutschland war während der Zeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert. Unter den Räubern gab es nicht wenige Juden. „Räuberdeutsch“ ist von jiddischen Worten durchsetzt. Wer etwas „ausbaldowert“ und später „Schmiere steht“, der ist schon mittendrin.
Weit reichen die Bögen, die Hess schlägt. Mal geht’s um die Römer, mal um die begeistert gefeierte Uraufführung von Schillers „Die Räuber“ in Mannheim. Auf einer imaginären Leinwand flimmern Lilo Pulver und Curt Jürgens vorbei. Irgendwann landen wir im kleinen Weiler Bierbach, der mal so etwas wie ein Räubernest gewesen sein soll. Hess: „Dort, und auch an anderen Orten, gab es Häuser, wo Räuber immer eine warme Suppe bekommen haben. Dort konnten sie geraubtes Gut absetzen und Informationen austauschen.“
Der Heimatforscher ist sich sicher, dass auch die „Krone“ in Semd ein Räubertreffpunkt war. Gewiss habe der Schinderhannes im Veranstaltungssaal gezecht. Ein gewisses Gruseln geht plötzlich durch den Raum, mehr aber noch zeigt sich Lokalpatriotismus auf den Gesichtern.
Nach knapp 90 Minuten gibt’s als Pauseneinlage die neu gedichtete „Semmer Version“ des Schinderhannes-Lieds, dann ist Karlheinz Müller an der Reihe. Der hat die inzwischen digitalisierten Daten der Akten durchforstet, in denen ab 1802 der Mainzer Prozess gegen den Räuberhauptmann und 67 weitere Räuber aufgezeichnet worden ist.
„Erschreckend viele Treffer“ habe der Suchbegriff Semd zu Tage befördert. Müller ist sich sicher, dass Semd für den 1799 bis 1802 überwiegend im Hunsrück agierenden Schinderhannes eine Rückzugsbasis war, wo neue Raubzüge ausbaldowert wurden.
Klar: Solche Abende stärken die lokale Identität. Ein wenig neidisch schielt man nun aber auch in den Hunsrück, wo der mythisch verklärte Gewalttäter die Unterlage für manch einträgliches Tourismus-Angebot liefert.
Klaus Holdefehr
22.11.2005